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Medizinische Tests in den Heil- und Pflegeanstalten des Nationalsozialismus

                                                                                                                         Marie Holtmann, Ruhr-Universität Bochum

 In der Videoreportage „Sichten und Vernichten – Psychiatrie im Dritten Reich“ von Ernst Klee und Gunnar Petrich (1988) wird ein Arzt gezeigt, der an einem kleinen Mädchen mehrere Tests durchführt. Das Kind sitzt unbekleidet auf einer mit einem Laken bedeckten Liege, während sich der Arzt seitlich daneben befindet. Eine zweite Person steht am Kopfende der Liege und hält den Rücken des Kindes mit beiden Händen fest. Der behandelnde Arzt dreht den Kopf der Patientin weit nach links und rechts, wobei diese versucht, sich durch Handbewegungen dagegen zur Wehr zu setzen. Bei der Drehung nach rechts rutscht das Kind beinahe von der Sitzfläche, wird aber von der zweiten Person festgehalten. Es ist zu erkennen, dass der Arzt den Kopf des Kindes mit seinen Fingern abzutasten scheint.

Derselbe Arzt und dasselbe Mädchen wie aus der zuerst beschriebenen Szene sind nun in folgender Position zu sehen: Der Arzt, stehend, hält das Kind an den Hüften mit beiden Händen fest, der Rücken des Mädchens ist zu ihm hingewandt. Er schleudert das Kind mehrmals vom Boden zur Zimmerdecke, während es mit Beinen und Armen strampelt. Weiterhin befindet sich das Kind ebenfalls im Griff des Mediziners, wobei es nun jedoch auf dem Rücken liegt und nur von der rechten Hand gehalten wird. Mit der linken Hand greift der Arzt den Kopf des Kindes und beugt diesen weit nach vorne zur Brust hin, sowie weit nach hinten in den Nacken. Der Mund des Mädchens ist geöffnet, was vermuten lässt, dass dieses eventuell schreit. Es strampelt weiterhin mit den Beinen, die Zehen sind krallenartig gebogen.

In dieser Szene des Dokumentarfilmes wird die allgemeine behandlungspraktische Situation in den Heil- und Pflegeanstalten von 1933 bis 1945 gut veranschaulicht. Der Raum ist gefüllt mit aneinandergereihten Betten, Krankenschwestern gehen durch die Reihen. Es ist zu erkennen, dass die Insassen in kleinen Betten liegen, die an den Rändern Erhöhungen aufweisen, möglicherweise um ein Herausfallen zu verhindern. Die Patienten sind fest zugedeckt und werden vom medizinischen Personal augenscheinlich versorgt.

Abbildung 1: Sichten und Vernichten (YouTube, Lewis Kline, 2017, 8:44)

Abgrenzung und Einordnung

In diesem Beitrag soll es um die therapeutisch-medizinischen Anwendungen gehen, die mit dem Nationalsozialismus neben den in vielen Konzentrationslagern stattfindenden Menschenversuchen auch an den Insassen psychiatrischer Einrichtungen durchgeführt wurden und die nicht primär auf die Besserung des Gesundheitszustandes der Patienten und deren Entlassung ausgerichtet waren. Darunter fallen exemplarisch die Zwangssterilisation, die Insulinkomatherapie, die Cardiazolkrampftherapie und die Elektrokrampftherapie, die bereits vor dem NS-Regime entwickelt und ausgeführt, im Nationalsozialismus jedoch aufgegriffen, weitergeführt und modifiziert wurden (Blasius, 1994, S.149-151; Gawlich, 2018, S.9). Auch verschiedene hirnelektrische Untersuchungen und die damalige Enzephalografie, ein Verfahren, bei dem den PatientInnen Hirnflüssigkeit entnommen und Luft eingespritzt wurde, lassen sich zu diesen Versuchen zählen. Die psychiatrische Behandlung dieser als minderwertig eingestuften Menschen und deren systematische Tötung steht in Bezug zur ab 1941 durchgeführten Euthanasie, die auf die Vernichtung lebensunwerter Leben abzielte (Blasius, 1994, S.182). Von dieser soll sich hier jedoch abgegrenzt werden, da dabei die schnellstmögliche Ausschaltung im Fokus stand und kein Heilmotiv mehr vorhanden war. In dem vorliegenden Beitrag sind gängige psychiatrische Menschenversuchsdurchführungen zur NS-Zeit von Interesse, bei denen Forschung und Heilmotiv miteinander verwoben waren und dem wissenschaftlichen Fortschritt gegenüber der Heilung und dem Wohlbefinden des Einzelnen eine klare Priorität eingeräumt wurde. Das möchte ich im Folgenden anhand der Beschreibung ausgewählter Versuche und diesbezügliche medizinisch-psychiatrische Vorgehensweisen darlegen. Diese Beschreibung soll aus praxeologischer Perspektive erfolgen, da davon ausgegangen werden kann, dass diese Menschenversuche anhand des gesichteten Materials als überindividuelle Praktik zu begreifen sind. Als praxeologische Perspektive wird das Erforschen von sozialem Handeln vor dem Hintergrund ausführender Körper verstanden (Wikipedia 2020; z. B. Reckwitz, 2003; Haasis & Rieske, 2015). Im darauffolgenden Schritt soll verdeutlicht werden, warum es sich bei dieser beschriebenen Praktik um Gewalt handelt und deren Umstände, Voraussetzungen, Deutungsweisen und Rechtfertigungen sollen kontextualisiert werden.

Abbildung 2: Reichsgesetzblatt vom 25. Juli 1933 (Wikimedia Commons, 2018)

 

Ausgangspunkt der in den Heilanstalten durchgeführten Versuche war das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933, das besagt, dass alle Menschen, die die darin aufgeführten Krankheiten aufwiesen, auf eigenen Wunsch oder unter Anordnung eines Vormundes oder behandelnden Arztes zur Sterilisierung gezwungen werden konnten. Hinter den Gesetzesvorgaben, die dazu führen sollten, einen sogenannten starken arischen Volkskörper hervorzubringen, stand ein Menschenbild des verminderten Wertes jener, die keine der Norm entsprechenden Nachkommen hervorbringen konnten und selbst nicht in diesen Rahmen fielen, also nach damaligem Verständnis als erbkrank galten. Die Formulierungen dieses Gesetzes ließen Interpretationsspielraum zu, welche Gruppen dem Gesetz und somit auch dem Recht der Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung unterlagen. ‚Angeborener Schwachsinn‘ und der vage Begriff der Idiotie machten es für Regierung und Ärzte möglich, jede beliebige Person zwangseinweisen zu können. Zudem wurden ihnen durch dieses Gesetz die Türen zur Erforschung des Ursprungs von erblichen Krankheiten geöffnet, die nun uneingeschränkter möglich waren und ohne eine Bindung an ethische Richtlinien gegenüber den stigmatisierten erbkranken Versuchspersonen vorgenommen werden konnten. Dazu zählt die bereits erwähnte Enzephalografie (Klinda, 2010).

 

Abbildung 3: „Hier trägst du mit“ (Lernen aus der Geschichte, 2011)

Auf Abbildung 3 aus der Illustrierten Monatszeitschrift für deutsches Volkstum sieht man einen jungen Mann, der unter der Last eines Holzbalken, auf dem zwei weitere Personen je an einem Ende sitzen, gebeugt dasteht. Die linke getragene Person sitzt in gebeugter Haltung da und sieht in die Ferne, das Gesicht ist ausgezehrt, die Augen liegen tief in den Höhlen. Die rechte Person scheint auf den Tragenden herabzuschauen und hat ein dunkles Gesicht, das tierische Züge aufweist. Der Träger hat helles Haar und eine starke Statur. Er sieht auf den Boden vor sich. Im Hintergrund, der im Vergleich zum Träger in der Mitte des Bildes sehr klein wirkt, sieht man helle, imposant anmutende Gebäude und eine Mauer. Der Text auf der Abbildung lautet: „Hier trägst du mit. Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50.000 RM“. Hier ist anschaulich zu erkennen, auf welche Art und Weise das Gesetz zur Verhütung sogenannten erbkranken Nachwuchses in der Bevölkerung – und somit auch in der Ärzteschaft – populär gemacht wurde. Die beiden offensichtlich unter dieses Gesetz fallenden Personen auf dem Holzbalken drücken den gesunden, deutschen Körper herunter, der unter der Last zwar leidet, aber nicht fällt.

 Die Insulinkomatherapie

Die Insulinkomatherapie oder Insulinschocktherapie wurde 1933 vom Wiener Arzt Manfred Sakel entwickelt und angewendet. Diese Methode lässt sich zeitlich vor die Anwendung der Cardiazolkrampftherapie, die ebenfalls als Schocktherapie gilt, verorten, wobei beide Formen erst einige Jahre später, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, in den Heil- und Pflegeanstalten Einzug hielten. Die hier herangezogenen Erörterungen von Manfred Sakel und Karl Dussik beziehen sich auf die mehr oder weniger standardmäßige Durchführung des Verfahrens in Wien, kurz nachdem dieses entwickelt wurde. Die Komatherapie in ihrer radikalisierten, disziplinierenden Form wurde im NS übernommen. Diese und die Therapie mit Cardiazol werden dahingehend als menschenversuchsähnliche Praktiken begriffen, da sie weniger einem Heilmotiv unterlagen als dem Forschungs- und Experimentierinteresse der schonungslosen sogenannten Medizin im NS.

Die starke Überdosierung von Insulin sorgte für eine künstliche Reduzierung des Zuckeranteils im Blut, sodass ein komatöser Zustand bis hin zu epileptoformen Krampfanfällen zumeist zur Behandlung von Schizophrenie provoziert werden konnte. Diese Annahme beruhte darauf, dass von einem Antagonismus zwischen Epilepsie und Schizophrenie ausgegangen wurde. Vereinfacht gesagt: Wo Epilepsie vorhanden war, konnte keine Schizophrenie bestehen. Somit sollten künstlich herbeigeführte epileptische Anfälle die Schizophrenie aus dem Organismus verdrängen. Dabei sollten die Patientinnen und Patienten aber nicht sofort mit einer gleichbleibenden Menge an Insulin behandelt, sondern nach und nach an die individuelle Komagrenze herangeführt werden. Daraufhin wurden sie, meist in einer Reihe von einigen Tagen, täglich schocktherapiert, wobei gegen Ende die Menge des verabreichten Insulins wieder reduziert wurde (Setzer, 2009, S.20; Blasius, 1994, S.165; Klinda, 2010, S.71; Gawlich, 2018, S.59-60). Der Schock selbst hielt über eine Zeitspanne von ca. 1-4 Stunden an, abhängig davon, wie gut die Patienten darauf ansprachen. Die Schocksymptomatik trat erstmals zwischen 45 Minuten und fünf Stunden auf. Zum Beenden der Hypoglykämie wurde den Patienten zumeist Traubenzucker oder Zuckerwasser verabreicht, was für die Behandlung noch zusätzliche Kosten bedeutete (Hill, 2008, S.72; Dussik & Sakel, 1935, S.410). Die Behandlung lässt sich demnach grob in vier Phasen unterteilen. In der ersten Phase wurde täglich nur ein- bis dreimal Insulin intramuskulär verabreicht, je nach Reaktion des Patienten. Das geschah immer morgens auf nüchternen Magen, und danach durften die Behandelten für ungefähr vier Stunden keine kohlenhydrathaltige Nahrung zu sich nehmen. In der zweiten Phase wurde ebenfalls abhängig von der Reaktion auf das Insulin entschieden, ob jeden oder jeden zweiten Tag die Einheiten gegeben und erhöht wurden. Das wurde bis hin zum gewünschten tiefen Koma fortgeführt. Der Unterschied zur Phase 1 besteht darin, dass standardmäßig nur eine morgendliche tägliche Dosis injiziert worden ist. Wurde eine schockauslösende Menge erreicht, so konnte diese beibehalten werden. Fand eine Adaptierung (Sensibilisierung bis hin zur Resistenz) des Patienten an das Präparat statt, musste auch die Dosis, die zumeist zwischen 20 und 260 Einheiten lag, angepasst werden. Wurde das Koma mittels einer Zuckerlösung durchbrochen, fand dies mit einer Nasensonde statt. Die Schock- beziehungsweise Komaarten wurden in den nassen und den trockenen Schock unterteilt, wobei der nasse Schock das gewünschte Insulinkoma und der trockene Schock das Eintreten von epileptoformen Anfällen meint, also Krampfanfällen, die in ihrer Form der Epilepsie ähnlich sind, jedoch nicht durch diese ausgelöst werden. Diese sollten umgehend durchbrochen werden. In den zeitgenössischen Ausführungen der Mediziner wird dabei auf die unbedingte Notwendigkeit eines Gegenmittels hingewiesen, beispielsweise in Form von Adrenalin, oder bei Bedarf die künstliche Beatmung. Jedoch fanden sich auch Auffassungen, die den trockenen, epileptoformen Schock als therapiefördernd ansahen. Die Komata konnten bis zu siebzigmal und darüber hinaus wiederholt werden. In der dritten Phase erhielt der Patient einen Schontag pro Woche oder bei sehr schweren vorhergegangenen Schocks mehrere Tage Auszeit. Dies konnte aber auch entfallen. In der letzten Phase wurde die Insulinmenge nach und nach reduziert bis hin zum Erreichen eines entlassungsfähigen Zustandes. Während der Behandlung befanden sich bis zu fünf PatientInnen gemeinsam in dem Krankenzimmer (Dussik & Sakel, 1935, S.409-411).

Die Anpassung der individuellen Insulindosis stellte sich laut Sakel und Dussik als schwierig dar, da diese nur über prozesshaftes Erlernen am jeweiligen Patienten möglich ist. Das impliziert eventuelle Fehlentscheidungen, Überdosierungen oder fehlerhaftes und zu spätes Beenden des Schockzustandes. Diesen Problematiken konnte mittels genauer Beobachtung durch das medizinische Personal entgegengewirkt werden, ferner wird auf das Bereitstellen von speziellem Schockbesteck hingewiesen:

1. 2 Injektionsspritzen zu mindestens 10 ccm.

2. 1 Injektionsspritze zu 2 ccm.

3. 6 Nadeln (intravenös).

4. 3 Nadeln zur intramuskulären Injektion.

5. 5 Originalpackungen 33% Traubenzucker in Ampullen.

6. 5 Ampullen Adrenalin 1:1000, 1 mg.

7. Kardiazol, Lobelin, Coffein in Ampullen.

8. Feilen zur Öffnung der Ampullen.

9. Tupfer, Äther zur Desinfektion.

10. Schlauch zur Venenstauung.

11. 2 Becher mit stark gezuckerter Milch

(Wasser oder Tee). (Etwa 15 bis

20 dkg Zucker.)

12. Nährtrichter und Nährsonde.

13. Glycerin oder Paraffinö1.

14. 1 Eiterschale.

15. 1 Glasspritze 150 ccm.

16. Mehrere Streifen blauen Lackmuspapiers.

17. 1 Eßlöffel oder Mundöffner.

18. Blutdruckmesser.

(Dussik & Sakel, 1935, S.411, Tab.9)

Waren die nötigen Artefakte verfügbar und die genaue Verlaufsbeobachtung durch die ärztlichen Betreuer vorhanden, wurde davon ausgegangen, dass die Anwendung weitestgehend ungefährlich sei. Die Artefakte waren, so wie bei der Enzephalografie und der Elektrokrampftherapie, medizinische Gerätschaften. Hierbei kamen die Aspekte der Vor- und der Nachsorge hinzu, für die ebenfalls Instrumente benötigt wurden, was die Insulinkomabehandlung von den anderen Anwendungen unterscheidet. Für die Nachsorge mussten zuerst einmal Nahrungsmittel, also Traubenzucker(lösungen) bereitstehen. Zudem war ein Löffel für das Einflößen dieser Mittel erforderlich. Zur Vorsorge eines misslingenden Komas wurden Präparate für die notfallmäßige intravenöse Verabreichung bereitgestellt. Es ist eine Unterscheidung in der Funktion der Instrumente erkennbar. Die einen dienen dem Auslösen des Komas (Schocks) selbst, die anderen dienen der (achtsamen) Versorgung der Behandelten danach sowie dem bei Bedarf nötigen Schockabbruch.

Der gängige Ablauf des Schocks stellte sich so dar, dass der Beginn des Komas durch starkes Schwitzen gekennzeichnet war, dann folgte Benommenheit bis hin zur Ohnmachtsgrenze. Zuletzt trat der Komazustand ein, der nach Ermessen des Arztes ausgedehnt werden konnte. In den Ausführungen Sakels und Dussiks von 1935 werden mehrere beobachtete Krankheitsgeschichten dargestellt, in denen psychotische Patienten mit der Insulinkur behandelt wurden. Dabei fällt auf, dass für jeden Therapieverlauf eine vollständige Zustandsbesserung dokumentiert wurde und schließlich mit der Entlassung beendet werden konnte. Ein wiederkehrender Begriff in diesem Kontext ist die Krankheitseinsicht (also das Eingestehen der PatientInnen, krank und damit für eine Therapie offen zu sein). Diese scheint für den Erfolg der Anwendung von zentralem Interesse zu sein. Die Mediziner dokumentieren weiterhin einige nach der Anwendung stattgefundene Todesfälle. Diese beliefen sich laut deren Aussage aber auf sehr wenige Fälle und es wurden externe Gründe gesucht, wieso es zum Tod kam. Dazu zählten unter anderem Bronchitis und ein Sekundenherztod, der jedoch auf die Kreislaufbelastung nach der Behandlung zurückgeführt wurde (ebd., S.412).

Darüber hinaus verwiesen die Ärzte explizit auf die positive Wirkung der Therapie:

„Die Patienten erholten sich körperlich sehr, zeigten erwartungsgemäß beträchtliche Gewichtszunahmen, die jedoch nur in vereinzelten Fallen ein wünschenswertes Maß überschritten, blühten förmlich auf und empfanden die Behandlung bis auf wenige Ausnahmen nicht als unangenehm. […] Widerstände gegen die Shockbehandlung ergeben sich nur selten und meist nur zu Beginn. Die Behandlung wird von den Patienten nicht als sehr unangenehm geschildert. Von den „Qualen“, die von mancher Seite als Folge des Shocks vermutet werden, ist nichts zu hören“ (ebd., S.413, 415).

Diese auf den ersten Blick positiv scheinende Wirkung (die möglicherweise durch die Mediziner zu einseitig dargelegt wurde, was die Problematik solcher Primärquellen erhöht) lässt sich auf zum Teil irreversible Veränderungen der Nervenbahnen im Gehirn und daraus resultierende Hirnschäden zurückführen, da die Komata viel zu oft und viel zu tief durchgeführt wurden. Die Ambivalenz zwischen nachhaltiger Verhaltensbesserung und hohen Risiken führte auch zu einer ambivalenten Haltung in der Ärzteschaft. Die einen schworen auf die Erfolge der Methode, während die anderen diese nur zögerlich anwendeten oder sogar rigoros ablehnten (Panfilova, 2005, S.69-72, 91). Die Folgen des tiefen Komas und des gegebenenfalls auftretenden epileptoformen Anfalls waren zur damaligen Zeit noch weitgehend unergründet. Panfilova (2005) erläutert in ihrer Arbeit, dass die größte Gefahr des Insulinkomas weniger in der Schädigung des zentralen Nervensystems lag, sondern viel mehr im Kreislaufsystem. Darüber hinaus konstatiert sie, dass die Zahl der Todesfälle im Verhältnis zur Schwere des Eingriffs und dessen vermeintlicher Wirksamkeit angeblich sehr niedrig war. Nebenwirkungen wie eine Störung des Kohlenhydratstoffwechsels, Augenschäden, Gangstörungen, somatische Insulinresistenz, Hirnschädigungen und Insulintod waren zwar laut den Aussagen der Befürworter, die mit Vorsicht behandelt werden müssen, nur selten zu beobachten. Dennoch waren sie möglich (ebd., S.93, 96-104).

 Die Cardiazolkrampftherapie

Die Cardiazol-Krampfbehandlung trat ein Jahr später als die Insulinkomatherapie, 1934, in den Heilanstalten auf den Plan und wurde von Ladislas J. Meduna entwickelt, der als ideale Krampfanzahl 20 bis 25 Anwendungen empfahl. Diese erfuhr aufgrund der geringeren Kosten, des vermindert benötigten medizinischen Personals und der einfachen Durchführung große Beliebtheit. Auch bei der Anwendung des Cardiazols, das in geringen Mengen als Kreislaufstimulator wirkt, war das Ziel, einen epileptoformen Anfall herbeizuführen, indem man das Mittel ebenfalls intravenös injizierte. Die Heilung der Schizophrenie oder ähnlicher Psychosen stand im Zentrum der Behandlung. Der den Körper erfassende Krampf verlief heftiger als bei der Insulinbehandlung und Verletzungen kamen häufig vor. Damit einher gingen oftmals Hustenkrämpfe und Blauverfärbungen des Gesichtes (Schott & Tölle, 2006, S.193; Rzesnitzek, 2013, S.1176; Blasius, 1994, S.165; Gawlich, 2018, S.62-63).

In der Arbeit Forschbachs (1938) zum Cardiazolkrampf wird unmittelbar deutlich, dass die Empfehlung Medunas zur Anzahl der Krämpfe nach eigenem Ermessen überschritten wurde. Die Patienten behandelte man immer zur gleichen Uhrzeit. Als Problematik wird die Ruhigstellung nervöser oder ängstlicher Personen genannt, denn durch die Gabe zusätzlicher Beruhigungsmittel verdoppelte sich die Menge der Injektionen im Vergleich zu den eintretenden Krämpfen. Die Anwendung selbst (in den meisten Fällen zweimal pro Woche) lief folgendermaßen ab: Es wurde mit einer Cardiazolmenge von 4ccm in einer 10%igen Lösung gestartet. Vor und während des Krampfes wurden die Herzfrequenz und andere Körperfunktionen wie die Atmung überwacht und zumeist dokumentiert. Wurde durch das Verabreichen des Präparates kein Anfall hervorgerufen, spritzten die Ärzte mit gleicher oder um 1ccm erhöhter Dosis nach, wobei diese Menge für den nächsten Anfall (meist einige Tage später) als Basis übernommen wurde. Man begann für die nächste Anwendung also beispielsweise mit 5ccm Cardiazol und spritzte bei vergeblicher Auslösung 6ccm nach. Das lässt sich aber nicht für jede Stufe so beobachten, denn in den darauffolgenden Anwendungen wurde die Anfangsdosis oft konstant gehalten. Die Dosen, in denen das Präparat gegeben wurde, variierten aber über Anstalten und Ärzte hinweg.

In vielen Fällen wurde in der Behandlungspause die Insulinkomatherapie durchgeführt, oder alternativ wurde diese von Beginn an mit der Cardiazolanwendung kombiniert (Forschbach, 1938, S.723-724; Ebner, 2010, S.117). Der Krampf an sich wurde durch eine stark ansteigende Herzfrequenz und einem daraus resultierenden starken Blutdruckanstieg eingeleitet. Zudem konnten Herzrhythmusstörungen, eine Erhöhung des Blutzuckers sowie eine Pupillenstarre, starkes Schwitzen und Speichel- und Urinverlust beobachtet werden. Die letzten drei Symptome werden von Forschbach jedoch als vegetative Störungen bezeichnet, deren Auslöser in der Physis des Patienten vermutet wurde und nicht im Präparat. Bei der Therapie kamen kurzzeitiger Herzstillstand oder Tod des Behandelten häufig vor (Forschbach, 1938, S.728). Reagierten die Patienten bei mehrmaligem Versuchen nicht auf das Mittel, wurde die Therapie abgebrochen. Um das Verletzungsrisiko beim Konvulsieren gering zu halten (was aber Knochenbrüche und anderweitige Verletzungen oftmals nicht verhindern konnte), waren die behandelten Personen liegend auf einer Unterlage an Armen und Beinen fixiert. Zusätzlich wurde diesen ein sogenannter Beißkeil zwischen die Zähne gesteckt. Das Cardiazol wurde in die Vene der Armbeuge injiziert und nach einigen Minuten setzten die Verkrampfungen ein. Zu den nicht wünschenswerten Nebenwirkungen zählten die Verstopfung und Verödung der Arterien durch das Mittel selbst. Die wiederholte, schnell aufeinanderfolgende Verabreichung verstärkte dies noch. Darüber hinaus setzten Übelkeit, Benommenheit, Kopfschmerzen und starke Ermüdungserscheinungen ein, sowie zwischen der Injektion und dem Krampf auftretende Todesangst:

„Falls keine Bewusstlosigkeit eintrat, bemerkten die Patienten ein quälendes Vernichtungsgefühl, sie hatten daher Angst vor der Behandlung“ (Heinrich & Klieser 1995, S.5, zitiert nach Setzer, 2009, S.20).

Die in vielen Fällen folgenden Erinnerungsschwierigkeiten stellten eine spezifische Problematik dar, obwohl Amnesiezustände grundsätzlich durch die Ärzteschaft begrüßt wurden. Grund dafür war die Annahme, dass die psychotischen Bewusstseinsinhalte durch die Behandlung vergessen wurden oder dass Patienten dadurch so beschäftigt waren, dass sie ihre psychischen Probleme verdrängten. Jedoch empfanden PatientInnen die Amnesie als besonders unangenehm. Einigkeit unter MedizinerInnen bestand dahingehend, dass die Cardiazolschocktherapie als weniger erfolgsversprechend angesehen wurde als die Insulinkomatherapie (Panfilova, 2005, S.15-16; Ebner, 2010, S.45-47; eddywieand, o. J.).

Die Enzephalografie

Als Enzephalografie, genauer Pneumoenzephalografie, wurde die Entnahme von Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) und die dann folgende Einspritzung von Luft verstanden, wodurch sich die Gehirnstrukturen auf Röntgenaufnahmen deutlicher erkennen ließen. Das machte sie zu einem vorwiegend diagnostischen Verfahren, bei dem die Größe der Ventrikel im Gehirn als Richtlinie für vorliegende Erbkrankheiten herangezogen wurde. Dies wurde erstmals 1919 von Walter Edward Dandy entdeckt, heute jedoch nicht mehr angewendet, da es als überaus schmerzhaft und gefährlich einzuordnen ist (Wikipedia, 2020). Der Psychiater und Neurologe Rudolf Lemke führte 1935 vor dem Hintergrund der Erbforschung Untersuchungen zum Verlauf von Psychosen und Schizophrenie durch (Erbgesundheitsgutachten) (Hinz-Wessels, 2004, S.82, zitiert nach Klinda, 2010, S.109). Insbesondere galt sein Interesse dem möglichen Verweilen in einem Stadium der Krankheit oder der Frage, ob sich der Zustand der Betroffenen bis hin zum Endstadium (damit ist die nicht mehr gegebene Brauchbarkeit für die deutsche Gemeinschaft gemeint) immer mehr verschlechtern würde. In diesem Zusammenhang wird immer wieder von einer durch die Krankheitsschübe weiter voranschreitenden Zerstörung der Persönlichkeit gesprochen (Lemke, 1936, S.89, 113). In seinem Bericht über die Enzephalografie dokumentierte der Mediziner sein Forschungsinteresse sowie seine bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Schizophrenie. Zudem ging er auf Theorien des Zusammenhangs zwischen Schizophrenie und Körperbau ein. Die Prognose, Psychosen mittels Zwangssterilisation gesamtgesellschaftlich ausmerzen zu können, stand im Zentrum der Versuche und lässt sich auf das eugenische Gedankengut, das mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses radikalisiert verfolgt wurde, zurückführen.

Lemke sprach dabei von Erfahrungen mit Schizophrenie, die er bei sich in seiner Klinik befindlichen Patienten bereits 1902 machen konnte und die die Grundlage für seine späteren Forschungen bildeten. Er bezog sich darüber hinaus auf die Erfahrungen seines Vorgängers Walter Jacobi, der 1928 enzephalografische Befunde von mehreren Patienten veröffentlichte. Bei den von Lemke selbst durchgeführten Lufteinblasungen verweist er darauf, dass diese von den betreffenden Personen gut vertragen wurden und keinerlei langanhaltende Nebenwirkungen auftraten. Die Behandlung fand im Sitzen statt und verlief subokzipital, das heißt die Entnahme wurde über den hinteren oberen Nackenbereich, direkt unter dem Hinterkopf, vernommen. Er erwähnte außerdem, dass bereits von ihm enzephalografierte Personen erneut behandelt werden konnten. Menschen, bei denen das Verfahren also schon einmal angewendet wurde, mussten sich diesem ein zweites Mal unterziehen (ebd., S.106). Beim Ablassen des Liquors kam eine Lumbalpunktionsnadel zum Einsatz, für die Lufteinspritzung eine zur damaligen Zeit gängige Injektionsspritze. Nach den Ausarbeitungen von Klinda (2010) war die Ausstattung und das Zubehör für die Behandlung sehr reduziert gehalten. Die Materialien wie Spritze und Punktionsnadel hatten im Ursprung einen anderen Funktionsbereich, beispielsweise nutzte man die Injektionsspritze eigentlich zur Blutabnahme. Diese Ausstattung bezieht sich aber auf die Abhandlungen des die Pneumoenzephalografie weiterentwickelnden Internisten Adolf Bingel, und Klinda konstatiert, dass in späteren Anwendungen auch extra für die Technik vorgesehene Instrumente zum Einsatz kamen (ebd., S.32). Hier treten bereits die unterschiedlichen Arten der Durchführung der Liquorentnahme hervor, denn nach Bingels Vorschlag wurde die Punktion nicht subokzipital, sondern lumbal, also im unteren Rückenbereich, vorgenommen. Während dieses Vorganges kamen weiterhin ein Trichter aus Glas, in den die Flüssigkeit einströmte, zum Einsatz, sowie ein Gummischlauch, der den Trichter mit dem sich an der Kanüle befindlichen Glasröhrchen verband. In den folgenden Jahren nach Bingels Vorschlag 1921 fanden diverse Modifikationen der Apparatur statt, um die Anwendung für Behandlungsperson und Ärztepersonal als weniger kompliziert zu gestalten.

Um das zentrale Ziel der Behandlung – die Röntgenaufnahme – zu erreichen, wurden Röntgenplatten direkt neben oder hinter den Patienten, abhängig von deren Sitz- oder Liegeposition, angebracht. Das führte dazu, dass der Schädel entweder frontal beziehungsweise von Rückansicht oder aus dem Profil auf dem Röntgenbild zu sehen war. Vorher durften die Patienten keine Nahrung zu sich nehmen und sie bekamen, wenn erforderlich, ein Beruhigungsmittel, beispielsweise Luminal (Klinda, 2010, S.38). Des Weiteren beschreibt Klinda die Abläufe nach der Anwendung. Zumeist wurden starke Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen und heftige Übelkeitszustände in den Forschungen der Mediziner, wie von Adolf Bingel, erwähnt und die dagegenwirkenden Maßnahmen genannt. Zur Reduktion von Kopfschmerz wurde empfohlen, die behandelten Patienten in horizontaler Position zu lagern, bei der der Kopf sich weiter unten als die Hüften befand. Zudem wurde Bettruhe und Wärme von mindestens einem Tag angeordnet.

Wie auch bei der Elektrokrampftherapie gab es keine allgemeingültigen, standardisierten Vorgaben über das genaue Vorgehen der Diagnostik, Menge der Hirnwasserentnahme, wann welche Punktionsstelle genutzt werden sollte und wie genau mit den auftretenden Nebenwirkungen umzugehen war. Wieder zeigt sich ein großer Entscheidungsspielraum der behandelnden Ärzte, die nach eigenem Ermessen die für sie am besten passende Version der Behandlung am Patienten durchführten. Die Enzephalografie wurde, wie bereits angedeutet, schon vor dem Beginn des Nationalsozialismus etabliert. Auch in anderen Ländern fand diese Anwendung immer mehr Beliebtheit. Während des Dritten Reichs jedoch wurde die Methode, wie Klinda formuliert, dahingehend radikalisiert, dass sie „häufig bei Kindern mit Entwicklungsstörungen und Epilepsie und bei Patienten mit Schizophrenie vor dem Hintergrund der Rassenideologie und Eugenikbewegung“ (ebd., S.76) genutzt wurde. Damit ist gemeint, dass die Enzephalografie für die Diagnostik einer erblichen Krankheit bei auf den ersten Blick uneindeutigen Fällen genutzt wurde. Das Verfahren als solches wurde dem gewünschten Ergebnis, also der Feststellung von krankem Erbgut, dahingehend angepasst, dass bei einer gesunden Person beispielsweise mehr Kontrastmittel verwendet und die Enzephalografie öfter vorgenommen wurde. Die Anwendung bei Kindern hielt zu der Zeit ebenfalls Einzug in den Charités und Heilanstalten des NS, zumeist in den dort eingerichteten sogenannten Kinderfachabteilungen. Dazu zählten unter anderem die Wittenauer Heilstätten (ebd., S.112, 115-116):

„In der Regel wurde die Enzephalographie in Narkose mit Äther oder Evipan (Hexobarbital) durchgeführt. Die Punktion und die Lufteinblasung erfolgte zuerst im Lumbalbereich und meist nur dann, wenn auf diesem Wege nicht genügend Liquor zu gewinnen war, griff man zur Okzipital- oder Ventrikelpunktion. Die Menge des entnommenen Liquors und der eingeblasenen Luft variierte zwischen 100–270 cm3, betrug also teilweise mehr als das Doppelte dessen, was in der damaligen Literatur empfohlen wurde. Ein Großteil der Komplikationen lässt sich auf die Narkose zurückführen, ein anderer Teil hing aber mit der Lufteinblasung zusammen“ (Klinda, 2010, S.133).

Es ist zu erkennen, dass die Durchführung bei Kindern sich in einigen Aspekten von der bei Erwachsenen unterscheidet: Der Entscheidungsspielraum der Ärzte schien sich nochmals vergrößert zu haben, etwa dahingehend, dass bei misslungener Entnahme eine erneute Punktion an einer anderen Körperstelle vernommen wurde. Darüber hinaus entstand eine viel engere Vorstellung davon, wie ein normales Enzephalogramm aussehen musste. Die medizinischen Kriterien wurden so weit modifiziert, dass nur noch einige wenige Kinder für gesund befunden wurden. Der experimentelle Charakter der Pneumoenzephalografie lässt sich besonders gut durch die Variation des Verfahrensablaufes in den Kliniken darstellen. Es fand unter anderem eine alternative Anwendung des Kontrastmittels statt. Anstelle von Luft wurde den Patienten das anteilig radioaktive Röntgenkontrastmittel Thorotrast eingefüllt, was in vielen Fällen zum Tod führte. Darüber hinaus konnte eine übermäßige Lufteinfüllung festgestellt werden, bei der das Verhältnis zwischen entnommenem Hirnwasser und eingeblasener Luft stark ungleichgewichtig war – im Kopf des Betroffenen entstand ein Überdruck, wodurch die Hirnstrukturen offenbar deutlicher hervortraten (ebd., S.144-150.).

Auch bei den in die Heilstätten eingewiesenen Kindern wurde die Anwendung aufgrund von misslungenen Versuchen oder experimentellen Funktionen häufig mehrmals vorgenommen. Die Todesfälle aufgrund des Verfahrens sind zum Teil aufgeführt und bestätigt, aber da die dokumentierte Anzahl überraschend gering ausfiel und in den Niederschriften große Uneinigkeiten bestanden, lässt sich nicht sagen, ob diese der Realität entspricht. Als Nebenwirkungen der Anwendung bei Kindern wurden zumeist starke Krampfanfälle, Bewusstlosigkeit, Kreislaufschwäche, Fieber, Hirnschwellung, Erbrechen sowie Hirnhautentzündung genannt. Kopfschmerzen und Übelkeit gehörten damit zu den harmloseren der auftretenden Folgeerscheinungen. Somit lässt sich feststellen, dass zwischen der Pneumoenzephalografie kurz vor der Zeit des NS und innerhalb dessen große Unterschiede bestanden. Zentral dabei scheinen das Einhalten wissenschaftlicher Empfehlungen für eine gelingende, möglichst problemlose Anwendung und der daraus folgende Entscheidungsspielraum zu sein. Je mehr der Ärzteschaft experimentelle Möglichkeiten eingeräumt wurden – nicht zuletzt durch die stark ausgeprägten Erkrankungen der zwischen 1942 und 1945 eingewiesenen Reichsauschusskinder, die die Regierung in sogenannte Kinderfachabteilungen einwies, um aufgrund ihrer als stark eingestuften Behinderungen an ihnen experimentieren zu lassen und schließlich im Zuge der Kinder-Euthanasie zu töten (Trieba, 2015) – desto gefährlicher wurde die Methode als solche.

Die Elektrokrampftherapie

Die seit 1938 in den Psychiatrien eingesetzte Elektrokrampftherapie, kurz EKT, ersetzte vor allem bei der Behandlung von als schizophren diagnostizierten Patienten innerhalb kurzer Zeit die Krampftherapie mit Cardiazol. Fundamental für die Durchführung der EKT war ein eigens für die Methode entwickeltes Artefakt, das sogenannte EKT-Gerät. Bei diesem handelte es sich um einen Transformator, der mit einer Zeitsteuerung versehen war und zu den modernsten Therapiegeräten der Zeit zählte. Zu der Maschine gehörten als grundlegende funktionale Elemente die Schalter, an denen Stromstärke und -fluss geregelt wurden sowie die Stromanschlüsse für die Kabel, die in den Elektroden mündeten. Diese Elektroden wurden mithilfe eines Gurtes aus Gummi um den Kopf der zu behandelnden Person angebracht. Um Verletzungen zu vermeiden, wurde den PatientInnen ein Beißschutz in den Mund gelegt (Gawlich, 2018, S.10-12). Bevor das Gerät betätigt wurde, mussten Patient und Elektroden vorbereitet werden. Dazu fand eine Rasur an den Stellen des Kopfes statt, wo die Elektroden platziert werden sollten. Zudem wurde die Haut zur Vermeidung von Fettbildung dort gewaschen und schließlich mit einer salzhaltigen Flüssigkeit eingerieben. In diese Salzlösung wurden auch die Stofftücher oder Schwämme, die sich über den Elektroden befanden, getaucht. Während der Vorbereitung und der Durchführung lag der Patient entweder auf dem Rücken oder seitlich positioniert, was abhängig von der Menge an gleichzeitig behandelten Personen war. Wurden viele Patienten aufgrund von ärztlichem Personalmangel gleichzeitig an ein Gerät angeschlossen, lagen diese voneinander abgewandt auf der Seite (ebd., S.251-256).

Wenn der Knopf auf der Maschine durch den Arzt gedrückt wurde, floss der Strom durch die Elektroden in den Körper der Patienten, was zu epileptoformen Anfällen führte. Dazu gehörten benannte Verkrampfungen und Zuckungen in Gesicht und Körper. Oftmals verloren die Patienten die Kontrolle über jegliche Körperfunktionen, es kam zu Ausscheidungen von Urin und Exkrementen, zudem wurde ein starker Speichelfluss beobachtet. Aufgrund des heftigen physischen Spasmus war es zuweilen nötig, dass PflegerInnen die Behandelten festhalten mussten. Zumeist verloren die Behandelten währenddessen das Bewusstsein. Je nach Bedarf variierte man die Anzahl der Stromstöße, abhängig von der Reaktion des Patienten. Die Stromstärke orientierte sich ebenfalls an diesem Prinzip, das heißt: Hatte die zu behandelnde Person keinen Krampfanfall, wurde beides – Stromstärke und Anzahl der Stöße – so lange erhöht, bis die wünschenswerte Reaktion eintrat (Gawlich, 2018, S.10-12, S.251-256; Accornero, 1988, S.47; Setzer, 2009, S.21). Die Vorbereitung und das Festhalten des Patienten übernahm das Pflegepersonal, während der Arzt an der Maschine stand und den Druckknopf betätigte. Bei der normalen Vorgehensweise, also dem Anschließen eines einzelnen Patienten an das EKT-Gerät, fand zumeist ein langsames Herantasten an die individuelle Reizschwelle statt. Dieser Vorversuch geschah über die Messung des Schädelwiderstandes mittels einer am Gerät angebrachten Widerstandstrommel, einem sogenannten Potenziometer, das die Intensität des Reizes regulierte (Gawlich, 2018, S.166; Ewald und Haddenbrock, 1942, S.640). Dies lässt die Interpretation zu, dass in einigen Psychiatrien die Befindlichkeiten der Behandelten nicht völlig ausgeblendet wurden.

Aufgrund des Personalmangels zu Beginn der 1940er Jahre wurde in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar in Bayern eine Fernauslösung für eine große Menge an Patienten etabliert. Der Arzt befand sich nun in noch größerer Distanz zu den Behandelten, da dieser am EKT-Gerät an einer Stelle des Raumes stand und für viele Menschen auf einmal den Reiz auslöste. Gawlich (2018) legt dar, dass zudem immer mehr auf die detailgenaue Vorbereitung der Patienten verzichtet wurde. Die Rasur und Entfettung der zu beklebenden Stellen entfiel, ebenso Hilfen wie Rückenkissen oder Keile zur Vermeidung von Brüchen oder anderen Verletzungen. Der Vorgang wurde dahingehend generalisiert, dass nun auch alle an das Gerät angeschlossenen Personen den gleichen Stromschlag erhielten, unabhängig von dem individuellen Widerstand. Damit vergrößerte sich nicht nur die Distanz zwischen Arzt und Patient, sondern es verkleinerte sich auch das Wissen über die Wirkung des Reizes. Im Gegensatz dazu war es bei den Einzelsitzungen Teil der Behandlung, sich durch Herantasten, Erlernen und Einüben der Behandlungspraktik an die richtige Art und Weise der Behandlung anzunähern. Bevor die EKT an Menschen erprobt wurde, bestanden keine Vorgaben oder Anleitungen die Stärke und Anzahl der Stromstöße betreffend. Dies konnte lediglich über das Ausprobieren der Handlung erlernt werden (ebd., S.256). Auch ohne die generalisierte gruppentherapeutische Anwendung stand der genaue Behandlungsablauf im Ermessen der jeweiligen Ärzte. Beispielsweise dokumentierten Ewald und Haddenbrock (1942) die exemplarische Nutzung des EKT-Gerätes am Patienten und damit den Entscheidungsspielraum, der ihnen dabei offenstand. Sie nutzten anstelle von Kochsalzlösung zum Präparieren der Elektroden eine Leitpaste, da das Verwenden einer Lösung einen längeren Zeitaufwand mit sich gebracht hätte. Ferner verzichteten sie auf die Rasur der Hautstellen und argumentierten, dass ohne diese lediglich ein weiterer Weg vom Reiz überbrückt werden müsse und die Stromstärke somit einfach erhöht werden könne. Die Nutzung des Gummigurtes um den Kopf, an dem die Elektroden normalerweise angebracht waren, erschien ihnen ebenfalls nicht notwendig.

Nicht nur der Ablauf der Behandlung war Bestandteil der Elektroschocktherapie. Die Dokumentation des Behandlungsverlaufes als Teil der Praktik und als Aufschreibepraktik an sich wurde mal mehr und mal weniger genau vorgenommen. Die Notizen den einzelnen Patienten betreffend enthielten unter anderem Urintestergebnisse, Wassermann-Testergebnisse (Wikipedia, 2021) und Fieber- sowie Gewichtskurven. Die oftmals angelegte Krampftabelle bezeichnet Angaben zu Stromstärke und -dauer, zur Heftigkeit des Anfalls, zur Latenzzeit und ob nach der Anwendung Rückenschmerzen auftraten. Überweisungsscheine zur EKT waren zum Teil ebenfalls in der Niederschrift enthalten. Diese detaillierten Aufzeichnungen stellen jedoch eher das Idealbild einer generalisierten Aufschreibetechnik dar. In der Realität variierten die Schemata und die Aspekte, deren Notation überhaupt als notwendig erachtet wurde, stark (Gawlich, 2018, S.80-88). Max Gawlich stellt in seiner Ausarbeitung zur EKT heraus, dass in den fehlenden Teilen der Dokumentation des Krankheitsverlaufes und der Behandlung eine Art Unwillen der Ärzte zu erkennen war, sich an die tabellarischen Vorgaben der Patientenbögen zu halten. Das mag dem in den 1940ern vorherrschenden Fokus auf der Forschung statt auf Heilung und Behandlung geschuldet sein, denn Berichte über das Wirken der EKT über viele Versuchsreihen hinweg lassen sich häufiger finden als individuelle Therapieverläufe und -reaktionen. Die Behandlungslogik am Patienten bestand eher darin, diesen an die Anstaltsgepflogenheiten anzupassen und so weit ruhigzustellen, dass dieser bereit zur Entlassung war. Ein nicht stattfindender oder nicht vollständiger Krampf wurde dem Patienten zugeschrieben. Dieser wurde als missglückter Schock bezeichnet. Ewald und Haddenbrock (1942) lassen in ihrer Niederschrift erkennen, dass ein missglückter Schock bei besonders schweren psychischen Störungen auftrete oder einer Besonderheit in der Anatomie der PatientInnen geschuldet sei.

Die Kombination aus gewissenhafter Vorbereitung, dem Versuch der Verletzungsvermeidung und dem Herantasten an die individuelle Reizschwelle lässt ein gewisses Heil- oder Besserungsmotiv erkennen. Die Tatsache, dass aber in vielen Einrichtungen auch auf die Vorbereitung und Reizregulierung verzichtet und auf eine Standardstromstärke zurückgegriffen wurde, zeigt eine Verschiedenheit in der Nutzung des Gerätes über Einrichtungen und MedizinerInnen hinweg. Auch die Ausführungen Ewalds und Haddenbrocks zeigen diese Ambivalenz:

„Leider benutzt Holzer diese Methode nicht dazu, Anhaltspunkte für eine möglichst genaue, dicht überschwellige Dosierung zu finden, sondern arbeitet in der praktischen Therapie mit der außerordentlich hohen ,,Normal“-Dosis von 110 Volt und 1 Sek. Durchlaufszeit! Er hält mit Pötzl Krampfversager für therapeutisch bedenklich und nimmt daher lieber jene von ihm selbst zugegebene erhebliche Überdosierung in Kauf. Diese übertriebene Scheu vor Abortivanfällen und die Unterschätzung einer Überdosierung ist nach unseren Erfahrungen, auch nach der Mehrzahl der Autoren, nicht recht verständlich. Auch die Ansicht Holzers, daß die klinische Umgrenzung dessen, was man unter einem ,,kompletten Shock“ zu verstehen habe, noch nicht einheitlich sei, teilen wir nicht“ (Ewald & Haddenbrock, 1942, S.641).

Hier wird deutlich, dass die beiden Ärzte die Auffassung eines Vorgängers, unter allen Umständen einen Vollschock zu provozieren, missbilligten. Ihr Plädoyer für Patientenschutz bei der EKT steht im Widerspruch zu ihrer fehlenden Sorgfalt in Form des Weglassens von zum Beispiel Rasur und Gummigurt.

Medizinische Tests als historische Praktiken

Folgt man Andreas Reckwitz (2003), so werden soziale Praktiken, als ein Zusammenspiel aus drei verschiedenen Grundelementen verstanden: Erstens die implizite, teils informelle Logik der Praktik, die im sozialen Wissen und Können verankert ist, zweitens deren Materialität in Bezug auf Körper und Objekte (Artefakte) sowie drittens das Wechselspiel aus Routine und Unvorhersehbarkeit. Da die Praxistheorie als Kulturtheorie verstanden wird, ist das Betrachten der medizinischen Tests im Dritten Reich vor dem Hintergrund der Praxeologie schlüssig. Mit dem Nationalsozialismus bildete sich eine Art der eigenen Kultur heraus: Geht man mit Ernst Boesch (1991) und der symbolischen Handlungstheorie, bei der Kultur – verallgemeinernd gesprochen – als Feld mit Möglichkeiten und Bedingungen für Handlungen, doing, verstanden wird, so bildete der NS ein ganz eigenes und neues Feld der Handlungsvorgaben und -begrenzungen heraus (Blasius, 1994, S.145-147). Innerhalb der Praxeologie und ihrer Annahme von kollektivem Wissen der Kultur als „praktisches Wissen und Können“ (Reckwitz, 2003, S.289) lässt sich der NS vor dem Gesichtspunkt neuer, impliziter, unhinterfragter Wissensstrukturen verstehen. Als erstes Merkmal sozialer Praktiken verweist Reckwitz zudem auf die informelle Logik der Praxis, wobei sich das Soziale darin – nicht zwingend mit Interaktivität einhergehend – im praktischen Wissen verankert ist und immer wieder reproduziert wird. Hier wird das Soziale als überindividuelle Regelungen verstanden, durch die das Handeln einzelner Subjekte überhaupt möglich wird (ebd., S.287). Wie kann gezeigt werden, dass es sich bei den medizinischen Anwendungen über eine informell, implizit logische Praktik handelte?

Zuerst einmal verweise ich auf das praktisch erworbene Wissen der Ärzteschaft. Hierbei handelt es sich um eine Praxis, die innerhalb des beruflichen Rahmens einer Menschengruppe ausgeführt wurde. Die ÄrztInnen waren das Mittel, das Bindeglied zwischen institutionellen Regelungen, sogar gesetzlichen Verankerungen und der praktischen Ausführung dieser an den Gewaltopfern. Das Know-how, was für die Therapien erforderlich war, war bereits erlernt worden, es musste lediglich von Patient zu Patient reproduziert werden. Die „wissensbasierte Tätigkeit“ (ebd., S.292) der MedizinerInnen, die durch die explizit herrschenden Regeln des NS gespeist wurde, musste aber immer wieder neu interpretiert und individuell angewandt werden, da der Einzelfall eine neue Zusammensetzung an erforderlichen Praktiken erforderte. Daher mussten die Ärzte, da ihnen ein Entscheidungsspielraum offenstand, festlegen, wann welche Therapie für welche Insassen geeignet schien. Das bedingt eine Wiederholbarkeit der Praktik, die in ihrer Routinisiertheit trotzdem für Abweichungen offen sein musste. Die Frage nach der Intentionalität, die bei dem Auseinandersetzen mit der Gewalt zentral ist, ist hier nicht von zentraler Bedeutung (ebd., S.293).

Zweitens ist die Materialität der Praktiken in ihrer Verbindung von Körper und Artefakt essenziell. Als Praxis des Umgangs mit Objekten und in Bezug dazu mit dem eigenen Körper, der sein implizites Verstehen darauf anwendet, sind die medizinischen Anwendungen stark von Körpern und Leiblichkeit, aber auch von Artefakten geprägt (ebd., S.291-292): Der oder die MedizinerIn muss den eigenen Körper einzusetzen wissen, um auf gewünschte Art und Weise auf die Insassen einzuwirken und zudem das Werkzeug, das erforderliche Instrumentarium kompetent, skillfully zu nutzen. Das ergab sich ebenfalls aus der beruflichen Ausbildung und Erfahrung der ÄrztInnen. In nahezu jeder Behandlung befand sich eine Liege im Zimmer, auf der die Behandelten, fixiert oder nicht fixiert, saßen oder lagen. Die Liege enthielt demnach selbst eine inhärente Nutzungsabsicht, die nicht hinterfragt werden musste. Abhängig von der jeweiligen Therapie befanden sich Instrumente, ohne die diese nicht durchzuführen war, im Raum. Das EKT-Gerät beispielsweise ermöglichte die Anwendung als solche erst (ebd., S.289.) Der Arzt, der den Knopf an der Maschine betätigt, bildet die zweite Instanz, ohne die die Anwendung nicht stattfinden würde. Auch die Insulinkomatherapie als zweites Beispiel hätte ohne das Präparat, das mittels einer Spritze in den zu behandelnden Körper eingeführt wurde, mit der Absicht, diesen zu beeinflussen, nicht funktioniert. Die Therapieverfahren zeigen sich hier als wiederkehrende, routinisierte Relationen zwischen den Akteuren (Ärzte und Patienten) und den gebrauchten Gegenständen (Artefakten). Das Verbinden von mehreren verschiedenen Aktivitäten, die sich in ihrer Gesamtheit als Behandlungsprozess betrachten lassen – Praktik der Vorbereitung des Materials, des Patienten, Nachsorge, Verabreichen des Mittels, des Aufschreibens – zeigt die Mehrdimensionalität der Praktiken.

In diesem Zusammenhang soll drittens auf die gleichzeitige „systematische Unberechenbarkeit“ (ebd., S.282) der erlernten, inkorporierten scriptshingewiesen werden und auf das Spannungsfeld, das aus Routine und Neuschöpfung entsteht. Jede soziale Praktik befindet sich „zwischen einer relativen ‚Geschlossenheit‘ der Wiederholung und einer relativen ‚Offenheit‘ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs“ (ebd., S.294). Das erworbene Know-how der Akteure zeigt sich in einer Regelhaftigkeit, die immer wieder musterhaft angewendet wird. Allerdings kann in jeder routinehaften Einzelanwendung eine Neuinterpretation aufgrund von Ungewissheit gefordert sein. Die daraus folgende Umdeutung ergibt sich ebenfalls aus dem inkorporierten Skript der Anwendenden; und hier wird deren Eigenständigkeit besonders deutlich. Das ist auch bei den medizinischen Verfahren der Fall. Jede Behandlung würde höchstwahrscheinlich, aufgrund kleinster unterschiedlicher Zusammensetzungen, eine geringfügige Umdeutung des Anwendungsbereiches erfordern. Beispielsweise bei Vorkommnissen wie eines unerwünschten trockenen Schocks musste der Arzt umgehend reagieren und sein Wissen auf die neue Situation anwenden und neu entwickeln. Auch in dem herausgestellten Entscheidungsspielraum der einzelnen Ärzte, wie die Menge an Hirnwasser, das entnommen werden sollte, und die Menge an eigespritzter Luft zeigt sich, dass der Rahmen der Praktiken zwar gesteckt war, aber diese neben Folgenungewissheit zudem Unberechenbarkeit hinsichtlich der Handlungsentscheidung aufwiesen. Darin werden das Erlernen und Aneignen einer Praktik relevant. Es wird eine Zeitlichkeit der Praktik implizit, da sich diese durch die ungewisse Vorhersage immer eine potenzielle Verschiebung von Sinn in der Zukunft beziehungsweise im Outcome offenhält (ebd., S.295).

Zentral für die Bestimmung vergangener Praktiken ist außerdem der explizit historische praxeologische Blick, der nach Haasis und Rieske (2015) eine geschichtswissenschaftliche Forschungsperspektive darstellt. Dabei sollen historisch gängige Praktiken unter dem Gesichtspunkt der damaligen Lebenswelt der AkteurInnen verstanden und rekonstruiert werden. Welche überindividuellen Strukturen waren vorherrschend, was waren festgesetzte und fluide Normen? Was war der gesamtgesellschaftliche Diskurs? Wie agierten die Ausführenden mit ihren Körpern und den Artfakten? Wie sah ihr Alltag aus und wie formte dieser die sozialen Praktiken? Inwiefern waren diese routinisiert? Kurzum, was war ihr überindividueller Kontext. Diesen Mustern kann sich mittels der Merkmale der Historizität, der Materialität (woran Praktiken erkannt werden können) und der Prozessualität (woran Praktiken belegt werden können) angenähert werden (Haasis & Rieske, 2015, S.13-17, 38).

Die Materialität medizinischer Praktiken im Nationalsozialismus äußert sich zunächst durch die bereits beschriebene wechselseitige Beziehung von Körpern untereinander und den genutzten Artefakten. Körper, die auf Körper einwirkten, und Artefakte, die durch körperliche Bedienung auf Körper einwirkten, bilden das eine Identifikationsmerkmal; das andere besteht in der schriftlichen und mündlichen sowie oftmals auch foto- und videografischen Überlieferung dieser. Dokumente, die aus der medizinischen Notationspraktik entstanden, belegen zwar das Durchführen der Anwendungen, müssen aber mit Vorsicht behandelt werden. Die eventuelle Motivation der AkteurInnen, zugunsten ihrer selbst oder der ihnen überstehenden Strukturen zu dokumentieren, sollte berücksichtigt werden. Diese Verschriftlichungen bieten lediglich (nicht zwangsläufig wahre) Repräsentationen der Vergangenheit (ebd., S.27). Darin bestand auch eine spezifische Problematik für das Verfassen dieses Artikels: Das Quellenmaterial, vor allem Primärquellen wie Arztberichte, Akten oder Zeitzeugenaussagen hinsichtlich der genauen Durchführung der Tests, stellte sich entgegen der Erwartungen als dünn heraus. Zwar gibt es unzählige Informationen über die allgemeinen Herrschaftsdynamiken im Dritten Reich und über deren Entstehungsweise, sowie über die Verhältnisse in den Konzentrationslagern. Was die Heil- und Pflegeanstalten betraf, so war es unter den gegebenen Umständen schwierig, entsprechendes Material einzusehen. Einerseits kann dies von der geringeren Verbreitung des Prozesses des Umgangs mit physisch und psychisch Kranken bis hin zur Euthanasie herrühren. Andererseits ist es denkbar, dass schlicht viele Originaldokumente nicht mehr existieren oder die Betroffenen verstorben sind, bevor sie die Gelegenheit zur Offenlegung bekamen. Zudem war auffallend, dass einige potenzielle Originaldokumente nur gegen Entgelt zu erhalten sind, wie beispielsweise die Abhandlungen des NS-Psychiaters Carl Schneider über die Psychologie der Schizophrenen. Daher war es nur bedingt möglich, mikrostrukturelle Charakteristiken und Gemeinsamkeiten der einzelnen Primärquellen herauszuarbeiten.

Der Aspekt der Prozessualität soll daran anknüpfend dazu dienen, die musterhaften Handlungen als Praktiken festzustellen, dahingehend, dass diese eine überindividuelle Gültigkeit besitzen müssen. Das kollektiv Geteilte und überindividuell Weitergeführte und Interpretierte markiert Handlungen als routinisierte, alltägliche Praxen, die über eine unabsehbare Zeit Bestand haben (sollen) (ebd., S.33-34). Es zeigt sich also, dass die therapeutisch-experimentellen Anwendungen über eine große Zahl von Akteuren hinweg als ordnungsgemäß verstanden wurden. Der Großteil an psychiatrischen Einrichtungen und der Großteil der Ärzteschaft führten diese vor dem Hintergrund des eugenisch-ideologischen Gedankenguts und dessen Gesetzmäßigkeiten aus. Im letzten Charakteristikum historischer Praktiken, der Historizität, tritt das zeitgenössische Wissen in den Vordergrund. Damit ist gemeint, dass die für die betrachtete Zeit gegebenen Strukturen und Ordnungen in den Kontext der Analyse gesetzt werden müssen. Welche Dinge waren damals von Bedeutung, was lag der Gesellschaft (des Nationalsozialismus in Deutschland) als Normen, Logik des Tuns, Sprache, Musterhaftigkeit vor? Was wurde verstanden, was wurde nicht verstanden? Welche Weise des sozialen Handelns wurde als gängig vorgegeben? Wie sah der Diskurs darüber aus (ebd., S.38)? Die Art der eigenen Kultur, die im Dritten Reich herausgebildet wurde, gab spezifische Denk- und Werteordnungen vor. So wurde sich auf den Wert des Lebens in Abhängigkeit von Nutzen für die Gesamtgesellschaft berufen, was mit der individuellen Arbeitsfähigkeit und dem Willen dazu in Verbindung stand. Damit wurden Stigmatisierungs-, Ausgrenzungs- und Gewaltprozesse legitimiert und geltend gemacht, die als Grundboden für deren Umsetzung am Einzelfall dienten. Da, so wie bei nicht-menschlichen Lebewesen, das Recht auf Freiheit, Unversehrtheit, Chancengleichheit und nein! zu sagen nicht für physisch und psychisch Kranke akzeptiert wurde, konnte man diese legal und unter dem Deckmantel der Zustandsbesserung medizinischen Verfahren unterziehen, die ohne Rücksicht auf Schmerzen und Tod nicht nur experimentell-wissenschaftlicher Forschung, sondern auch willkürlicher Disziplinierung dienlich waren. Mit Haasis und Rieske kann man sagen, dass die Gleichwertigkeit eines Menschen durch das eugenische Gedankengut unverständlich wurde (ebd. S. 39).

Die medizinischen Anwendungen als Gewaltpraktiken

Woran kann nun festgemacht werden, dass es sich bei den vier vorgestellten Methoden um gewalthaltige Praktiken handelte? Da es eine nahezu unüberschaubare Vielzahl an Gewaltdefinitionen gibt, werde ich mich, um eine Richtlinie für die Einordnung zu geben, eingangs auf die Gewaltdefinition von Popitz (1992, S.48) beziehen, der Gewalt als „Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat oder […], in Drohungen umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung (als bindende Aktionsmacht) führen soll“ definiert. Ich fokussiere mich, was die individuelle Gewalt betrifft vor allem auf die körperliche Gewalt, die die Unversehrtheit der menschlichen Physis vorsätzlich schädigen oder einschränken will. Vielen Definitionen ist gemein, dass für Gewaltausübung ein Machtgefälle vorliegen muss. Der Mächtige verfügt auf jede erdenkliche Weise über den Ohnmächtigen. Auch die Intentionalität einer schädigenden Handlung wird immer wieder diskutiert. Muss der oder die Gewalthandelnde wissen, welche Auswirkungen und Folgen sein oder ihr Handeln für das Opfer hat? Und ist dies nicht der Fall, handelt es sich dann um Gewalt? Möglicherweise kann auch ein unwissentliches Verletzen der physischen und auch psychischen Integrität einer Person als Gewalt gelten, folgt man beispielsweise Johan Galtung (1975), der das Dulden von Verletzungsverhältnissen, ungleichen Lebensbedingungen und das Unterlassen von Hilfe aller Art als strukturelle Gewalt bezeichnet. Allgemeiner formuliert, Gewalt funktioniert über die Abwertung von Leben und die Aufwertung von Macht (Christ & Gudehus, 2013, S.2-10; Heitmeyer & Hagan, 2002, S.19), und dieses hierarchische Verhältnis kommt nicht nur in böswilligen Absichten, die den Körper betreffen, zutage. Im Falle der medizinischen Verfahren in den Psychiatrien des NS tritt klar hervor, dass bestimmtes Leben abgewertet wurde – dies ist der damals gängigen Bezeichnung psychisch oder körperlich beeinträchtigter Menschen als lebensunwerte Leben und Ballastexistenzen inhärent. Folgt man Volker Bonschier (2007), der auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit unter Gewalt fasst, so kann hier eindeutig festgehalten werden, dass in den Psychiatrien Gewaltverhältnisse herrschten. Das kann innerhalb dieser Einrichtungen die erste Ebene der Machtaktion über andere Personen darstellen, worauf alle weiteren aufbauen.

Die an den Patienten durchgeführten Behandlungen lassen sich nicht allein vor dem Gesichtspunkt des jeweiligen Arztes, der diese vornahm und in dem Moment die Entscheidungsgewalt besaß, betrachten. Bei dem in den Heil- und Pflegeanstalten herrschenden Zustand handelte es sich zuerst einmal um institutionalisierte, genauer um staatliche Gewalt (und nach Galtungs Auffassung ebenso um strukturelle Gewaltverhältnisse, da sich die gänzlich ungleichen Lebenschancen und -bedingungen in der Nutzbarkeit des Individuums für Deutschland manifestierten). Bei der staatlichen Gewalt nutzt das Monopol des Staates seine Macht für Ordnungs- und Repressionsfunktionen, die oftmals einen Ideologie-Hintergrund aufweisen und in Diktaturen häufig vorkommen (Imbusch, 2002, S.47-49). Mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses traten die ideologischen Triebkräfte in einem zusammengefassten Erlass zutage. Es wurde institutionell festgelegt, welche Menschen aufgrund verschiedener sogenannter Krankheiten sterilisiert werden durften. Ein Paragraph besagte, dass dies bei beschlossenem Gerichtsurteil auch unter Zwang durchgeführt werden durfte, sollte der oder die Betroffene sich weigern. Damit wurde die Doktrin des reinen Volkskörpers, der durch die entsprechenden Personen gefährdet war, als Leitlinie festgelegt, und musste nun in den Anstalten implementiert werden. Aus diesem Grund eröffnete sich die Möglichkeit für die dem Gesetz unterstehenden MittäterInnen, die Ärztinnen und Ärzte der Heil- und Pflegeanstalten, nach eigenem Ermessen Forschungen oder Bestrafungen mittels verschiedener Therapiemaßnahmen an den Insassen durchzuführen. Dabei war der Aspekt der Arbeitsfähigkeit zentral: „Allen Therapien gemein war das Motiv, die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten so weit arbeitsfähig zu schocken, dass diese zumindest für eine Zeit lang dem Volkskörper zunutze kamen.“ (Setzer, 2009, S. 7).

Unter diese Schockfunktion lassen sich vor allem die Anwendung des Cardiazolschocks, der Insulintherapie und der Elektrokrampftherapie fassen. Die Enzephalografie als vorwiegend diagnostisches Verfahren, die häufig auch experimentell verwendet wurde, nimmt eine besondere Stellung in der rassenhygienischen Ideologie ein, denn dadurch konnte man dem erbgesundheitlichen Ausmerzen psychischer Krankheiten, insbesondere der Schizophrenie, näherkommen. Mit der Insulinkomatherapie und der Cardiazolkrampftherapie wurden aus dem Grund nicht prioritär behandelt, da sie dem Sterilisationsgesetz und der Euthanasie im Weg standen. Die symptomatische Besserung der Krankheit und das Entlassen der Patienten als vermeintlich gesunde Personen war nicht das primäre Ziel, denn es hätte der Ausrottung der mit diesen Krankheiten behafteten Individuen und Ahnenlinien widersprochen.

Dass die medizinischen Verbrechen auf dem Boden der staatlich ausgeübten Gewalt begangen wurden, scheint klar zu sein. Doch kann man auch auf der Individualebene von Gewaltanwendung sprechen? Übten die Ärzte tatsächlich, in Bezug auf die festgelegte Definition, Gewalt aus? Wussten sie um die Nebenwirkungen, Folgen, Angstzustände und das eigentliche, dahinterstehende Motiv? Geschahen die Anwendungen mit einer mutwilligen Schädigungsabsicht und gegen den Willen der PatientInnen? Da die Einzelmotive der Ärzte nicht rekonstruierbar sind, können diese Fragen nicht klar beantwortet werden, aber es kann sich mittels der Therapie- und Durchführungsmerkmale daran angenähert werden. Zentrales Merkmal der Praxen war zum einen die ausschließliche Anwendung an wehrlosen Personen. Das waren Menschen, die auf verschiedenen Wegen in eine Heil- und Pflegeanstalt gekommen waren, oftmals auf Anweisung eines Familienmitgliedes oder eine ärztliche Anordnung. Darunter fielen auch diejenigen, deren psychische Beeinträchtigung so weit ausgeprägt war, dass diese keinen Einspruch gegen ihre Behandlung einlegen konnten. Die Enzephalografie beispielsweise wurde in den meisten Fällen nur bei Erkrankten oder unter diesem Verdacht stehenden Menschen durchgeführt. Und da dieses Verfahren wie beschrieben wahrscheinlich sehr unangenehm zu ertragen war, kann davon ausgegangen werden, dass es – in vielen Fällen – gegen den Willen der Behandelten geschah. Das kann auch in der Organisation der psychiatrischen Anstalten selbst begründet sein. Diese waren zumeist durch Außenstehende schwer einzusehen und noch schwieriger war es, Einspruch gegen die dortigen Behandlungen einzulegen (Klinda, 2010, S.157-158). Klinda spricht darüber hinaus von minderjährigen Patienten, die noch weniger die Möglichkeit zum Widersprechen besaßen. Jedoch musste aufgrund bürokratischer Regelungen meist zu Beginn des Aufenthalts ein Einverständnis der Eltern eingeholt werden. Dieses war aber sehr allgemein gehalten und führte keine expliziten Behandlungsmethoden auf. Die Eltern stimmten also generalisierend allem zu, was in der Anstalt sowieso vorgenommen wurde. Ferner weist Klinda auf Fälle hin, in denen Eltern der mehrmaligen enzephalografischen Anwendung widersprachen. Dies war in den Akten des Kindes zwar dokumentiert, trotzdem wurde die Enzephalografie erneut durchgeführt (ebd., S.159). Personen, die durchaus in der Lage waren, ihrer Behandlung zu widersprechen, wiesen dann jedoch das Merkmal der nicht vorhandenen Krankheitseinsicht auf: „Bezüglich der durchgemachten Psychose muß Krankheitseinsicht bestehen. – Bei diesen Fällen hat man den Eindruck der Heilung.“ (Sakel & Dussik, 1935, S.361). Fehlte diese Einsicht, konnte laut der behandelnden Ärzte keine Heilung stattfinden, was bedeutete, dass ein Einspruch gegen die Therapien nur immer mehr bewies, dass keine Besserung eingetreten war – und somit die Behandlung weitergeführt werden musste.

Ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist das Moment der Disziplinierung, das mit den Therapien einherging: „Die Menschen in der Anstalt standen oftmals vor der Alternative, entweder gemeinschaftsfähig ‚geschockt‘ oder getötet zu werden.“ (Rzesnitzek, 2013, S.1175). Es ist ein Bezug zu dem oben diskutierten Fehlen der Krankheitseinsicht zu erkennen. Eine Erziehung hin zu der Einsicht, für den Volkskörper unbrauchbar zu sein, und die sich daraus ergebene Erforderlichkeit einer gnadenlosen Therapie scheint eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Innerhalb dieser ideologischen Strukturen scheint die strukturelle Gewalt eine Voraussetzung für die physische Gewalt gewesen zu sein, denn ohne die vorherige Einordnung in eine bestimmte Gruppe – die der Überflüssigkeit und des Hinderlichseins – fand keine körperliche Gewaltanwendung statt.

Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Therapien der Heil- und Pflegeanstalten überhaupt als wirksam anzusehen sind. Wie oben bereits angeklungen ist, bestand die Wirksamkeit vielmehr in der völligen Anpassung der Patienten an die Anforderungen der Anstalten und Ärzte. Das geht einher mit einer möglichst vollständigen Ruhigstellung, durch Strom oder medikamentös. Vielleicht fand bei den Behandelten ein Lerneffekt statt, der dazu führte, so wenig wie möglich aufzufallen. Der vermehrt in den Ärztedokumentationen vorkommende Hinweis, dass die Patienten nach der Behandlung widerstandslos am Anstaltsleben teilnahmen und sich einfügten, könnte ein Indiz dafür sein. Ob die Ärzte wussten, dass durch die extreme Anwendung von Insulin und Cardiazol keine echte Zustandsbesserung, sondern nur ein zeitweises Verschwinden der Symptomatik – was mit großen Risiken einherging – zu erreichen war, ist unklar. Vermutungen in die Richtung wurden zwar angeführt und es gab durchaus Kritiker der Schocktherapien, die auf die Pseudo-Wirksamkeit und die negativen Folgen hinwiesen (Panfilova, 2005, S.70). Die Anwendungen wurden dennoch durchgeführt, was möglicherweise unter anderem auf die staatlichen Vorgaben, die für die Heilanstalten galten, zurückzuführen ist. ÄrztInnen, die diese in ihren Psychiatrien vornahmen, äußerten aber selten Zweifel an den Methoden. Diese Unklarheit bezüglich der Wirkmechanismen der Therapien schlägt den Bogen zum experimentellen Charakter dieser als zentrales Moment. Die Ärzteschaft wusste nicht, was genau damit einherging, also erprobte sie dies an jenen, wo es (außerhalb von Tierexperimenten) möglich war. Die zu Anfang beschriebenen Tests, die ein Arzt bei einem blinden Kind, ganz klar gegen dessen Willen und unter Schmerzen durchführte, verdeutlichen diesen Charakter. Es lässt sich eine Verbindung zum Machtgefälle knüpfen, das der Gewaltausübung vorausgeht: Das Kind, entmündigt, erkrankt und wehrlos, stellt ein Versuchsobjekt ohne Konsequenzen dar. Zum einen lässt die allgemeine Gnadenlosigkeit „ohne Rücksicht auf Gefahren und Schmerzen“ (Rzesnitzek, 2014, S.1175), die die Therapien zu dieser Zeit kennzeichnete, und deren extreme Durchführung Zweifel am Heilmotiv und an der Ahnungslosigkeit der einzelnen Ärzte aufkommen. Zum anderen kann die gesundheitliche Wirksamkeit der Verfahren und das schlichte Nicht-Wissen um deren Risiken dahingehend infrage gestellt werden, dass die Häufigkeit der Anwendungen nach der Zeit des Nationalsozialismus stark abnahm (Klinda, 2010, S.175).

Resümee und Ausblick

Es ist festzuhalten, dass sich die hier dargelegten menschenversuchsähnlichen medizinisch-therapeutischen Verfahren als Gewaltpraktiken verstehen lassen. Gewalthaltig deshalb, da, wie herausgestellt, mehrere Formen der Gewalt nebeneinander Bestand hatten und, unabhängig von dem Wissen darum oder dem Motiv der VerbrecherInnen, den Betroffenen immensen Schaden zufügten. Es lassen sich institutionalisierte, staatliche, strukturelle und individuelle Gewalt herausstellen. Hier kann zudem auf den Aspekt der kollektiven Gewaltfolgen hingewiesen werden. Diese resultieren daraus, dass eine spezifische Tätergruppe an einem Kollektiv aufgrund der Zugehörigkeit dessen Individuen zu einer bestimmten Gemeinschaft, Verbrechen ausübt. Das entsprechende Kollektiv leidet generationenübergreifend unter diesen Folgen, die über die Summe des Einzelleides hinausgehen, sodass Desintegrationsprozesse in Verbindung mit diesen kollektiven Traumata stehen (Oettler, 2013, S.252). Die medizinischen Verfahren sind ferner, unter Bezugnahme auf die praxeologische Forschung, als sozial-historische Praktiken aufzufassen. Sie weisen eine überindividuell festgelegte Routinisiertheit und Prozesshaftigkeit mit einer der Verfahren selbst inhärenten Unberechenbarkeit auf. Sie wurden im Rahmen des ärztlichen Berufes vor dem Hintergrund eines zugrunde gelegten, inkorporierten Wissens ausgeführt. Sie waren abhängig von der wechselseitigen Dynamik von Körpern und genutzten Artefakten, was ihre Materialität beweist. Außerdem stellten sie sich als mehrdimensionale Praktiken heraus. Nicht nur die Durchführung am Körper an sich gehörte dazu, auch die benannten Dokumentationstätigkeiten waren von Bedeutung. Darüber hinaus sind Rechtfertigungspraktiken der MedizinerInnen in Bezug auf ein angebliches Heilmotiv zu erkennen.

Diesbezüglich könnte ein Beitrag, der sich explizit mit solchen auseinandersetzt, gewinnbringend sein. Auch Disziplinierungs- beziehungsweise Strafpraktiken oder auch Ziele der Ruhigstellung schienen eng mit den medizinischen Verfahren verwoben. Schließlich war es im Anstaltskontext möglich, einen als zuwiderhandelnd geltenden Insassen unter dem Vorwand der Heilabsicht zu therapieren. Als Rahmen dienten die gesellschaftlichen Stigmatisierungspraktiken des NS, die behinderte und psychisch kranke Menschen als Ballast für das aufstrebende deutsche Volk ansah, der den Volkskörper von innen heraus angriff. Wie im praxistheoretischen Teil dieses Beitrags angerissen, wäre es daher ebenfalls einträglich, sich mit den Diskursen, Meinungen und geltenden Wissens- und Wertordnungen innerhalb des NS-Bürgertums zu befassen. Eine kulturvergleichende Studie über die Einführung und die Anwendung dieser und anderer gewalthaltigen Therapien würde sich gleichermaßen lohnen. Die zu Beginn dieses Beitrags erwähnten Verfahrensdurchführungen unter anderem in Wien lassen vermuten, dass diese im nationalsozialistischen Deutschland zwar übernommen, weiterentwickelt und radikalisiert wurden, jedoch auch in anderen Ländern und Kontexten genutzt wurden. Welche Zwecke und Motive hinter diesen standen, würde sich sicherlich als überaus interessant herausstellen, vor allem unter Bezugnahme auf die Elektroschocktherapie in den USA (Hedrich, 2014). Außerdem ist ein Zeitvergleich zwischen der NS-Zeit und der Nachkriegszeit anzustreben, insbesondere vor den aktuellen Enthüllungen über die menschenrechtsverletzende Situation in den Psychiatrien der Nachkriegszeit (Eilert, 2012, S.29-30). Welche Praktiken wurden aus der NS Zeit bis weit in die 70er Jahre übernommen, auf welchem Werteverständnis von Krankheit und Besserung bauten diese auf, wurden diese vom nationalsozialistischen Gedankengut maßgeblich geprägt, obwohl sie nicht von diesem abhängig waren? Wie konnten diese Wertordnungen und das daraus resultierende Handeln weiterbestehen? Oder war diese Entwicklung eine zwangsläufige oder zumindest logische Folge aus dem Nationalsozialismus? In Bezug darauf sollte auch die Weiterverwendung des im NS erworbenen Wissens, das unter anderem durch die hier diskutierten Praktiken erlangt wurde, in den Blick genommen werden. So könnte es naheliegen, dass diese Erkenntnisse unter verbotenem Wissen betitelt würden, doch es bestehen klare Verbindungen zu heutigen Therapieformen, beispielsweise dem Elektrokonvulsions-Verfahren gegen Depression (Kara, 2017). Auch die Tatsache, dass die Enzephalografie durch ihre Anwendung im NS und ihrer damit bewiesenen Gefährlichkeit fast vollständig aus dem medizinischen Repertoire verschwand, spricht deutlich für eine Weiterverwendung des dort erlangten Wissens. Ein Beitrag, der sich detailliert mit einer solchen Übernahme von tabuisierten Kenntnissen beschäftigt, wäre von großem Nutzen.

 

Marie Holtmann studies in the master program Social Science (Culture & Person) at the Ruhr-Universität Bochum (April 2021)

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